Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Turmbesteigung bei Martini 02.10.2016 Es ist fast pünktlich 18.00 Uhr, als die alte Holztür unten am Turm der Stadtkirche St. Martini geöffnet wird. Sie knarrt nicht einmal. Auf einem Podest, ein paar Stufen in Kopfhöhe, steht der Türmer von St. Martini, der Stadtkirche von Halberstadt. Braune Gewandung über einem weißen Hemd und das Haupt von einer altertümlichen Mütze gekrönt. „Willkommen, Ihr gemeines Volk, zur Turmbesteigung in den Sonnenuntergang“, sagt er und geleitet jeden einzelnen, an sich vorbei, durch die Öffnung hindurch in das Innere. Gut zwei Dutzend Bürger der Stadt und einige Gäste sind gekommen, um ihre Neugier zu stillen. Auch ich bin einer von ihnen und neugierig, wie die Stadt wohl von oben aussehen möge und mich lockt die Aussicht, vielleicht doch einen schönen Sonnenuntergang, hoch über den Dächern von Halberstadt, zu erleben. Zwar hatte es geregnet, aber der Wind könnte das Himmelszelt noch von den tief hängenden Wolken befreien. Ich steige nun auch die Außenstufen bis zur Tür, dann verschluckt mich das alte Gemäuer. Drinnen ist alles grau und kalt. Ein Gang führt weiter und einige Stufen zu einem größeren Raum. Es ist zwar eng, aber ein Gefühl der Beklemmung bleibt aus. Zum Glück. Den Druck der Steine kann man nur ahnen, wenn man auf die kalkgrauen Wände und an die Decke blickt, aber es ist genug Freiraum, um keinen Kontakt zum Mauerwerk haben zu müssen. Von hier aus führt eine steinerne Treppe weiter nach oben. Bis zu diesem Raum sind alle noch ganz entspannt, auch abenteuerlustig und mancher mit einem lockeren Spruch auf den Lippen. Noch! Denn der Einstieg an der Wand deutet auf anderes hin. Von hier aus führt eine Wendeltreppe hinauf zur Aussichtsplattform. Es wird nun enger zugehen und wesentlich steiler auch. Nach oben die hohen Stufen steigend, komme ich mir vor wie in einer dieser Röhren, durch die sich ein drehendes Schneckengewinde quält, um etwas zu transportieren. So ein Gerät habe ich vor Augen und mache den ersten Schritt auf die hohe Stufe. Langsam und immer wieder stockend kriecht jetzt der Menschenwurm, in dem ich gefangen bin, weiter aufwärts. Stufe für Stufe, Windung um Windung, einem noch ungewissen Ziel, namens Aussichtsplattform in der Höhe, entgegen. Nichts für Leute mit Platzangst oder Übergewichtige. Unter mir schnauft jemand verdächtig laut, über mir stockt der Wurm immer wieder und mein linkes Hüftgelenk zeigt mir dezent aber bestimmt den Vogel. Du Idiot! Muss das wirklich sein? Es muss, denn ich möchte in den Sonnenaufgang. Also quäle ich mich, links ein Geländer, rechts ein dick geflochtenes Seil, weiter durch die enge Förderschnecke. Vorbei an kleinen Lucken und größeren Nischen, in denen ich jetzt gern verschnaufen würde. Doch hinter mir kommt der nächste und vor mir entsteht eine Lücke. Weiter, insgesamt 129 Stufen auf 30 Höhenmeter. Und dann endlich, das Zählen der Tritte ist mir irgendwo unterwegs entfallen, empfängt uns Licht und dahinter ein großer Raum mit luftiger Weite. Wir sind oben und es weht ein steifes Windchen. Wir sind auf einer Plattform zwischen den beiden Türmen angelangt. Man erkennt sie von unten an den riesigen, mit Steinornamenten verzierten, Öffnungen. Hier haben die Winde freie Bahn zwischen Harz und Huy, zwischen allen Himmelsrichtungen, obwohl man eigentlich nur in zwei schauen kann. An den Seiten versperren die Türme mit ihren Glocken den freien Blick und in eines der Fenster haben die Winde irgendwann einmal ein Samenkorn hingepustet. Nun wächst hier oben am Fensterbalken ein kleines Bäumchen. In die Turmräume hineingehen könne man auch, habe ich mir aus wissendem Munde sagen lassen, aber nicht mit Massen von Besuchern. Der es mir sagte, wird mir hoffentlich den Beweis nicht schuldig bleiben. Mich würde der Besuch eine Ebene höher nämlich auch reizen. Doch erst einmal hole ich tief Luft und begebe mich dann zum „Fenster“. Das ist gesichert und nur ein kleines Guckloch ermöglicht den Blick ohne ein Netz vor der Optik der Kameras. Demzufolge heißt es anstellen, denn beinahe jeder möchte ein paar Fotos ohne Maschen mit runter nehmen. Ich muss erst einmal nur staunen. Erst auf der einen Seite, die zum Domplatz hin, und dann auf der anderen auf die Dächer der Stadt, hinaus in Richtung Magdeburg. Den Stadtteil, in dem ich mein Zuhause habe, kann ich von hier leider nicht sehen. Ein Turm versperrt die Sicht. Schade, aber vielleicht einmal später und doch noch etwas höher. Am Fenster mit Blick zum Dom bleibe ich länger stehen. Das Auge entdeckt einen Postkartenblick und das trotz des trüben Wetters. Das prunkvolle Gotteshaus an der rechten Seite, ein freier Blick auf den Domplatz und darüber hinaus bis zur Liebfrauenkirche mit ihren vier Türmen. Es ist eine Augenweide! Allein nur dafür hier hinauf zu steigen, hätte sich gelohnt. Darüber hängen bis zum Horizont Wolken in Fetzen, durch die die untergehende Sonne mit letzter Kraft verzweifelt durchzudringen versucht. Weit hinten, über dem Harz, hat sich eine Wolkenwand gesetzt und schüttet die Berge mit Wassermassen voll. Der Brocken verschwindet darin, ist nur noch vage zu erahnen. Nur ein einziges Mal gelingt es dem roten Sonnenball sich kurz hindurch zu zwängen und genau in diesem Augenblick muss ich durch das Gittergeflecht schauen. Pech! Aber da sind ja noch der Herr Türmer und seine beiden Stadtweiber, die fleißig ihren Wein an jeden Aufstiegskandidaten verteilen. Mit nur wenigen, aber passenden Worten erklärt uns dieser Mann die Besonderheiten hier oben, die Funktion aller Räumlichkeiten, falls man die so nennen kann, und was seine einstigen Vorgänger hier oben alles zu tun hatte. Er macht das kurzweilig, unterhaltsam und mit viel Witz. Dass ein Türmer tatsächlich noch eine Etage höher klettern musste, um in seine eigenen „Wohnräume“ zu gelangen, ringt mir zusätzlich Hochachtung ab. Den Lebensstil des Mannes wage ich mir gar nicht erst auszumalen. In dessen Leben hat wohl die Romantik, die ich gerade genieße, so gar keine Rolle gespielt. Vom Winter mal ganz zu schweigen. Während die einen noch immer neugierig die Stadt von oben betrachten, gibt eines der Marktweiber für die anderen kleine Episoden aus dem damaligen Stadtleben zum Besten. Sie und der Herr Türmer machen das unaufdringlich und kurzweilig, obwohl beide in ihrer leichten Bekleidung vielleicht sogar ein wenig leiden müssen, wie ihre einstigen Vorgänger auch. Durch meine Kleidung dringt der Wind ebenfalls. Da ich mir geholt habe, was ich wollte, entschließe ich mich zum Rückzug. Einige werden sicher noch etwas länger hier ausharren wollen, mich zieht es wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, also nach unten. Der Abstieg durch die enge Steinspirale gestaltet sich, zu meiner Überraschung, wie ein Parkour mit Hindernissen. Es wollen tatsächlich auch jetzt noch Besucher nach oben steigen und die kommen mir entgegen. Mein Vorteil ist mein Gewicht, dem die von unten Kommenden nur wenig entgegenzusetzen haben. Ich lasse mich einfach gleiten, während alle Neulinge sich stemmen müssen. Körperkontakte inbegriffen und das nimmt nicht jede mit Humor. Wer zu spät kommt und außerdem gegen den Strom angeht, verliert schon mal einen der Knöpfe an der Kleidung. Meine sind noch alle dran und froh bin ich außerdem, den Rest des Abends im Warmen und ohne Zugluft verbringen zu dürfen.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, zufälligen Begegnungen und Entdeckungen im Harz.