Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Briefe, Bilder, Bücher – zu Besuch beim alten Gleim 08.03.2016 Halberstadt, das Tor zum Harz: Ein beeindruckender Dom mit zwei wuchtigen Türmen, die schon aus weiter Ferne zu sehen sind. Der Platz vor dem Gotteshaus, größer als ein Fußballfeld und gegenüber die Liebfrauenkirche mit vier weiteren Türmen. Auf diesem Platz ein Mal im Jahr „Ton am Dom“ und hinter diesem beeindruckenden Ensemble, die historische Altstadt mit ihren vielen Fachwerkhäusern. Nicht zu vergessen, die Stadtkirche St. Martini, inklusive zwei weiterer Türme, dazu der Fisch- und der Holzmarkt. In der Altstadt, auf einem Hinterhof, das Schraube-Museum, das mit Schrauben nichts zu tun hat, um die Ecke das Papermoon und in der Nähe das einmalige Cage-Projekt, dessen Klang uns alle Jahrhunderte überdauern wird. Es gibt ein Theater, es gibt Kino, Schwimmhalle und Schienen für die Straßenbahn, die an weiteren alten Kirchen der Stadt vorüber fährt. Wie viele Kirchtürme ragen in Halberstadt eigentlich gen Himmel? Neben dem Dom behütet das Gleimhaus die Sammlung vom alten Gleim und auf der Höhe von Spiegelsberge hat jemand ein Riesenweinfass ohne Wein versteckt. Dort steht auch der Bismarckturm und ihm zu Füßen ein kleiner feiner Tierpark. Das alles plus vieler grüner Flecken und noch einiges mehr ist Halberstadt aus der noch engen Sicht eines Neulings. So viel, wie ich aufgezählt habe, so viel habe ich sicher auch vergessen, zu nennen. Kaum zu glauben, aber von all dem wusste ich bis vor zwei Jahren nichts, gar nichts. Für mich war die Stadt identisch mit Würstchen. Nicht einmal die Nähe zum Harz war mir wirklich bewusst und dass auf halber Strecke zwischen beiden die alte Burg Regenstein aus der Landschaft ragt, auch nicht wirklich, obwohl ich dort oben schon einmal als Kind mit meinen Eltern stand. Halberstadt ist von Elsterwerda, von wo ich herkam, weit entfernt und, im Vergleich zu Goslar, in meinem Bewusstsein auch nie ein mögliches Reiseziel gewesen. Inzwischen bin ich, seit dem 1. September 2014, ein Neu-Halberstädter und glücklich, hier gestrandet zu sein. Weil ich so wenig von diesem Flecken wusste, gibt es für mich hier auch so viel zu entdecken. Oder hätten Sie, der zufällige Leser, ad hoc gewusst, wer Johann Wilhelm Ludwig Gleim war und was ihn für die deutsche Literaturforschung so interessant macht? Ich jedenfalls nicht, aber genau aus diesem Grund habe ich heute eine Verabredung im alten Gleimhaus. Ich bin Kind eines Staates, den es nicht mehr gibt. Meine Eltern lebten mir Achtung, Offenheit und die Neugier auf andere Menschen und deren Kultur vor. Die umfangreiche Korrespondenz meines Vaters wies mir gedankliche Wege über Grenzen in die weite Welt. Er war es, der seinem Sohn ermöglichte, in diesem Umfeld seit 1971 eine intensive Brieffreundschaft nach Schottland zu pflegen und die Liebe zur Rockmusik auszuleben, die über alle Grenzen hinweg die Herzen einer damals jungen Generation im Sturm eroberte und ihr Denken revolutionierte. Insgesamt zehn dicke Ordner Briefverkehr und eine beachtliche Sammlung Vinyl kamen so zusammen. Ich lernte Judy aus Tasmanien, Susanne aus dem Schwäbischen und mit ihnen die Einsicht kennen, dass Freundschaft, neben dem eigenen Leben und der Liebe, das höchste Gut ist, das man geschenkt bekommen kann. Was nützen digitale Häkchen, ein „gefällt mir“ und die Ansammlung von zweihundert „Freunden“, wenn ich in der Euphorie der Freude oder im Schmerz niemanden habe, der bereit ist, das Gefühl mit mir auszuleben und den Moment zu teilen, der an meine Tür klopft und einfach da ist. Ich bin einer, der, bei all den Vorteilen der digitalen Vernetzung, noch immer analog und warm denkt, um im Kontext der Musik zu bleiben. Die Aussicht, auf jemanden mit ähnlichen Intentionen, wenn auch aus einer früheren Zeit kommend, zu treffen, hat die Neugier in mir geweckt. Hinter dem gotischen Dom führt eine alte holprige Pflastersteinstraße herum, an einem Fachwerkhaus vorüber. Hier lebte bis 1803 der Dichter, Jurist und Literaturliebhaber, der Meister im Briefeschreiben und im Netzwerke verknüpfen - Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Hier befinden sich seine umfangreiche Sammlung von Büchern und die Porträts von Zeitgenossen, mit denen er regelmäßig Kontakte pflegte und Gedanken tauschte. Für die Nachwelt zum Bestaunen, für die Wissenschaft ein Forschungsobjekt. Geht man auf den Pflastersteinen um den Dom herum, meint man, Geschichte und ihre Geschichten förmlich fühlen zu können. Die Schritte werden kleiner und dann stehe ich vor dem Gleimhaus, hinter dessen schlichtem Fachwerk sich ein Fundus verbirgt, den man dem Häuschen und der Stadt, wo es steht, eigentlich nicht zutraut. Doch was macht den alten Herrn Gleim, von dem ich bisher nie etwas gehört hatte, so interessant und so faszinierend für Menschen unserer Tage? Dem historischen Gleimhaus ist ein modernes Museumsgebäude hinzugefügt. Der erste Neubau seiner Art und in Deutschland nach der politischen Wende. Viel Glas, viel Licht und viel Offenheit. Ein Symbol oder Zufall? Ich entscheide mich für das Symbolhafte, für ein Gefühl, das ich hier bei Konzerten schon mehrmals genießen durfte. Diese Durchsichtigkeit verschließt nicht, sie öffnet das Innere und lockt die Blicke, denen der neugierige Besucher folgen kann. Hier im Foyer empfängt mich eine dezent schlicht gekleidete Dame: Anna Louisa Karsch. Nicht aus der Mitte des Raumes, sondern behutsam von der Seite her leitet sie mich hinein in eine Zeit, die auch die ihre war, denn sie ist eine aus dem Freundeskreis von Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Und dann sitze ich, inmitten der schöpferischen Unruhe eines modernen Arbeitszimmers, lausche den Worten und staune, wir nah mir die Botschaften und wie eng die Parallelen eigentlich sind. Das hatte ich nicht erwartet. Beinahe jedem Wort und jedem neuen Detail folgt die Erkenntnis, dass ich diesem Gleim schon viel früher hätte begegnen sollen oder gar etwas von ihm auch in mir verborgen ist. Für Momente ist mir, als säße dieser Typ spitzbübisch grinsend neben mir am Tisch, als wollte er sagen: „Siehst’e, wusste ich’s doch!“. Im November 1747 verschlägt es den jungen Gleim, der in Halle studiert und danach in Potsdam und Berlin gelebt hatte, von da zurück nach Halberstadt. Knapp dreißig Jahre alt, lässt er Freunde und eine bis dahin gewohnte Umgebung zurück, um in Halberstadt fortan als Domsekretär zu wirken und sein Leben zu gestalten. Ich stelle mir mit heutiger Sichtweise vor, wie frustrierend es gewesen sein muss, zwischen sich und Freunden beschwerliche Tagesreisen zu wissen, keine Möglichkeiten für die bisher bewährten Geselligkeiten zu haben. Obwohl im Harz geboren, muss die Rückkehr hierher dennoch ein gewaltiger Einschnitt gewesen sein. Doch ein überdurchschnittliches Einkommen verhilft ihm, eine Idee zu verwirklichen. Der junge Gleim richtet sich ein „Zimmer der Freundschaft“, seinen kleinen privaten „Tempel der Verdienstvollen“, ein. Er lässt von bedeutenden Malern seiner Zeit Porträts von Freunden malen und alle in gleicher Größe, denn, ganz im Sinne der Aufklärung, sind alle gleich, unabhängig vom ihrem Stand und der Herkunft. Na und, könnte jetzt jemand vorschnell sagen, aber in jenen Tagen ist dieser Gedanke eine kleine Revolution, über deren Wirken wir in der Schule ganze Aufsätze schrieben. Während ich neugierig zuhöre, ich mir vorstelle, wie ein Porträt nach dem anderen entstand, versucht mein zweites Ich sein Wissen über die Aufklärung zu reaktivieren. Könnte es sein, dass unsere Gesellschaft, so aufgeklärt, wie sie sich nach außen gerade gibt, dringend so etwas wie Aufklärung, eine neue Bewegung „alle sind wir gleich“, gebrauchen könnte? Völlig unabhängig von unserer Herkunft und unserer Position in der Gesellschaft, unabhängig davon, welchem Gott wir huldigen und welche Hautfarbe die Natur uns gab? Das Haus hat einen kleinen engen Innenhof. Hier ist es hell und, der Jahres- und Tageszeit gemäß, ziemlich frisch. Der Zwischenstopp tut gut, schafft Freiheit im Kopf und kühlt die Gedankenhatz darin ein wenig auf Normaltemperatur herunter. Einige merkwürdige Gefäße, unter Hockern stehend, ziehen die Aufmerksamt auf sich und schnell erkennt der Betrachter, dass dies wohl steinerne Urnen sind. Da drängt sich die Frage nach dem Warum auf. Ich erfahre vom „Poetengang“ in Halberstadt und was es damit auf sich hat. Der Neu-Halberstädter in mir hat ein neues Ziel, ein weiteres Objekt der Begierde, entdeckt. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, so erfahre ich, suchte und fand im Laufe seines Lebens brieflichen und direkten Kontakt zu mehr als 400 Freunden: Literaten, Dichter, Politiker und andere Zeitgenossen. Von so einem Freundes- und Bekanntenkreis träumt heutzutage manch Facebook-Jünger. Und doch gelang es Gleim, dieses Netzwerk der Freundschaft, brieflich und alles per Hand geschrieben, aufzubauen und mit Leben zu erfüllen. Nicht vom Smartphon mal schnell eine Kurznachricht versendet, sondern jeden Brief, Wort für Wort, einschließlich Groß- und Kleinschreibung, mit Federkiel von Hand geschrieben. Man stelle sich die Zeit und die Mühe vor, die es braucht, nur ein einziges Blatt Papier mit der eigenen Handschrift zu beschreiben! Bei mir im Regal stehen insgesamt zehn Ordner, in denen meine gesamte Korrespondenz, mit Schreibmaschine geschrieben, aus nur drei Jahrzehnten mit meinem schottischen Freund gebündelt ist. Dieser Gleim muss wahrlich ein vom Schreiben Besessener gewesen sein. Etwa 10.000 seiner Briefe sind uns erhalten geblieben, die alle im Gleimhaus aufbewahrt sind. Was heute über die drei großen B’s Briefe, Bilder, Bücher hinaus wirkt, ist sein Bemühen, sein geschaffenes Netzwerk zu nutzen, um Schwächeren zu helfen oder Begabte zu fördern. Die Dame im Foyer, Anna Louisa Karsch, ist dafür ein Beispiel von vielen. Doch das ist schon wieder ein anderer interessanter Stoff für ein neues Thema Seit meiner Jugend bin ich leidenschaftlicher Schallplattensammler. Hinter so manch schwarzem Vinyl verbirgt sich bei mir eine sehr persönliche und manchmal auch skurrile Geschichte. Wenn jede meiner weit über tausend Platten erzählen könnte! Da stehe ich nun zwischen den hoch aufragenden Regalen im Hause von Gleim und die sind bis unter die Decke voll mit Büchern. Es müssen zehntausende sein, die mich in diesem Moment zu Staunen bringen. Für einen winzigen Moment stelle ich mir vor, dies wären alles Schallplatten! Nein, ich bin nicht neidisch, nur ein moderner Jäger und Sammler, einer der noch viele Wünsche offen hat und plötzlich vor einer Sammlung steht, die vollkommen und komplett scheint. Für den Augenblick werden mir die Knie weich und dann realisiere ich, dass in diesen Regalen das niedergeschriebene Archiv einer ganzen Epoche vereint ist und in meinem Kopfkino sehe ich eine Bibliothek wie die aus „Der Name der Rose“ und dann, wie eine vom Glaube blinde Horte, die Tempel, Statuen und Schriften einer Jahrtausende alten Kultur in die Luft jagt. Einfach nur so. Wozu Menschen doch fähig sind, im Großartigen, wie im Abscheulichen. Wir müssen noch viel lernen, wenn wir leben wollen! Bei dieser Kommunikationsfreude blieb es nicht aus, dass so mancher Zeitgenosse sich selbst gern in der Porträtsammlung von Gleim, neben Herder, Lessing, Klopstock, Jean Paul oder gar Friedrich II. von Preußen an der Wand sehen wollte. Man wollte dazu gehören, Teil des Freundeskreises und damit ein Teil der geistigen Elite sein. Man fühlte sich geschmeichelt, obwohl die Vorgabe, beim Malen den Stand außen vor zu lassen und alle gleich darzustellen, durchaus nicht der Zeit gemäß schien, sondern ihr voraus war. Solche Gedanken drängen sich mir auf, während ich über die schrägen Fußböden jene Zimmer durchschreite, in denen heutzutage rund 140 Porträts zu bestaunen sind. Was man hier sehen kann, ist nichts weniger als der umfangreichste zusammenhängende und bestens erhaltene Nachlass eines deutschen Dichters des 18. Jahrhunderts, am seinem ursprünglichen Sammelort aufbewahrt und den persönlichen Intentionen desjenigen folgend. Beim Nachfragen erfahre ich, dass einige der Stücke in den Wirren der letzten Kriegstage in Richtung Osten abtransportiert und in Zeiten der Perestroika wieder zurück gebracht wurden. Viele andere werden dort noch vermutet. Doch in heutigen Tagen, fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion, scheint eine solche neue Geste weiter entfernt, denn je. Wir müssen noch sehr viel lernen! Das Gleimhaus in Halberstadt ist ein Museum. Man kann hinein und durch die Räume gehen, so wie in jedem anderen Museum auch. Es gibt viel zu sehen, manch interessantes Detail zu entdecken und, wer ein Auge dafür hat, kann auch einen Blick in die Zeit riskieren. Dennoch, so mein Eindruck, ist hier einiges anders, denn im Haus Gleim läuft man Gefahr, sich selbst neu zu entdecken. Mal ganz ehrlich, wann haben Sie sich zum letzten Mal Zeit genommen, einen Brief von Hand zu schreiben? Haben Sie Briefe Ihrer Eltern, Geschwister, Kinder oder von Freunden aufgehoben? Beim Bestaunen der Bücher wurde ich auf mehrere dicke Wälzer hingewiesen, die sich als Herbarien entpuppten und mir fiel ein, dass so ein Hefter aus meiner Penne-Zeit auch noch bei mir zu finden ist. Die Beschriftung darin, man höre und staune, erfolgte noch mit einem Füllfederhalter und meine Schrift hatte damals schon richtig Charakter. Heute schreibe ich, falls es einmal notwenig ist, mit Kugelschreiber und einer Handschrift, die ein wenig aus der Übung gekommen scheint. Leider! Mich fasziniert dieses Schreibpult von Gleim. Ein Möbelstück, Kombination zwischen Schulbank und Sessel, das geradezu zum Schreiben lockt und verleitet. Ich hätte nicht schlecht Lust, mir ebenfalls so ein Möbelstück hinzustellen, wären da nicht die Kosten für ein weiteres Unikat. Die Schreibfläche ist verstellbar, in den Armlehnen verbergen sich kleine Fächer und wenn man sich anders herum darauf setzt, befindet man sich in einem Sessel. Ein guter Platz zum Denken. Vielleicht, so eine nicht ganz ernst gemeinte Vermutung, hat Mark Zuckerberg sich Inspirationen bei Gleim geholt, als über die Komponenten für Facebook nachdachte: Wir kennen die Profilbilder, wie die Porträts von Gleim. Wir haben solche Bilder vor unseren Augen, wenn wir entweder eine persönliche Nachricht oder einen neuen Text schreiben. Wir vernetzen uns untereinander, wir senden Bilder und Informationen, wir bilden neue Gruppen und ein jeder versucht, für andere interessant zu sein. So wie es bereits Gleim mit seinen Mitteln in seiner Zeit tat. Damals wie heute geht es um Kommunikation, um Darstellung und Übermittlung. Von einem wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim können wir zusätzlich lernen, mit all dem Gutes und Sinnvolles zu tun. Dann wäre wieder ein kleiner Teil unseres Daseins ein wenig besser, als am Tag zuvor. Ein jeder von uns, jeden neuen Tag, ein klein wenig wie Gleim sein.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, zufälligen Begegnungen und Entdeckungen im Harz.