Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Ein Besuch bei Frau Schraube(Museum) Halberstadt 12.08.2015 Der Neu-Halberstädter bekommt bei seiner amtlichen Anmeldung unter anderem eine Freikarte für die städtischen Museen und Kultureinrichtungen, den Dom und Domschatz sowie das John-Cage-Projekt inbegriffen. All denen habe ich meinen Besuch abgestattet und bin begeistert sowie angeregt wieder in die neue Wohnung gegangen. Auf der Freikarte steht auch das Schraube-Museum, aber ich dachte mir, Schrauben, Gewinde und dergleichen sind eher nicht mein Ding. Da gibt es, zumindest für mich, weitaus interessanteres zu entdecken. Gleich neben dem Schraube-Museum hat das Kultur-Cafè sein Domizil. Die „Biene“ habe ich nach dem Konzert von Driftwood Holly kennengelernt, weil die drei Herren am Morgen danach ihr Frühstück dort bekommen haben. Außerdem ist es verlockend, in ihren urgemütlichen Wänden einmal selbst und in Ruhe Kaffee zu trinken. Dabei kommt man ins Quasseln und erfährt, das Schraube-Museum nebenan wäre einen Besuch wert, weil man dort einen Blick in eine andere Zeit, in die Wohnkultur der Familie Schraube zur Jahrhundertwende, erleben könne. In diesen Räumen habe die letzte Namensträgerin der Familie Schraube, geboren im Jahre 1903, bis zu ihrem Ableben im Jahre 1980, gelebt und alles wäre noch im Original zu bewundern. Also doch nichts mit Schrauben?? Nein, keine Schrauben, dafür aber das Wohn- und Lebensumfeld einheimischer Kaufleute, die ein florierendes Wäschegeschäft und eine Blaufärberei betrieben haben. Die letzten 30 Jahre ihres Lebens lebte Margarete Schraube in den Räumlichkeiten allein, weil es ihr nicht vergönnt war, eine eigene Familie zu haben. Die Familie Schraube ist ein Teil der Geschichte von Halberstadt. Der Eingang zu deren Wohnräumen, etwas versteckt hinter leuchtendem Grün auf dem Hof, wird von einem alten wuchtigen Fachwerkbau, einem Ackerbürgerhaus, verdeckt. Von der Straße kommend, geht der Gast durch einen Torbogen und findet sich Momente später in einem luftigen Innenhof wieder, in dem die Zeit zu verharren scheint. Margarete Schraube ist diesen Weg sicher oft gegangen, um die Tür in der rechten hinteren Ecke zu erreichen. Von hier führt eine steile Treppe nach oben, wo sich ihre Wohnräume befinden. Steht man auf der untersten Stufe, meint man, die alte Dame müsse jeden Augenblick von da herunter schauen. Hier oben kann man sich beinahe so bewegen, als wäre man ihr Gast und könne an einem Teil ihres Lebens noch einmal teilhaben. Zunächst betrete ich eine geräumige Küche und sehe Margarete Schraube an einem Tisch in der Mitte hantieren. Um ihn herum hat die alte Dame, sehr funktional und übersichtlich, die Einrichtung gestellt. Küchenschrank, Herd, Wandregal, eine Kleidertruhe und die Waschutensilien in einem Bottich. Sicher sah es in ihrer Küche einstmals anders aus, aber die Küchenmöbel sind die aus jener Zeit. Ein wenig beneide ich die alte Dame. So einen alten Küchenherd mit Ringen zum Herausnehmen und offenem Feuer darunter, so etwas würde sich der Hobbykoch in mir auch wünschen. Mein Spieltrieb erwacht und der Romantiker auch. Andererseits, auf den großen Topf daneben, der zum Einwecken benutzt wurde und den ich auch noch von meiner Mutter kenne, würde ich verzichten wollen. Ebenso auf die kleinen Hilfsmittel, die sich mir aus dem Waschbottich entgegen strecken. Doch sicher hat Margarete diesen Fleischwolf benutzt, der auch in unserer Küche Verwendung finden würde. Ich fühle mich wohl in dem von dunklen Balken durchzogenem Raum, der eigentlich eine Schauküche ist und eine warme Wohnatmosphäre versprüht. Wenn ich wollte, dürfte ich hier sogar kochen, nur müsste ich das vorher anmelden. Schulklassen nutzen dieses Angebot gern, hier in althergebrachter Weise sich am Kochen zu versuchen, und eventuell lasse ich mich auch noch einmal dazu hinreißen. In dieser alten Küche, die viele Einwohner der Stadt auch mit Gaben aus ihrem eigenen Haushalt bereichert haben, gibt es selbst für Erwachsene eine Menge zu sehen und zu bestaunen. Viele Erinnerungen an Mutti und Oma inklusive. Über den Flur und vorbei an zwei Glasvitrinen führt mich Margarete Schraube in ihr eigenes Gemach. Das ist sonst nicht üblich, aber hier darf jeder einen Blick hinein werfen. Alles befindet sich in dem Zustand, wie ihn uns die Hausdame hinterlassen hat. Waschschüssel, Wasserkrug, Bett, Schrank und sogar ihr Nachtgewand sowie weitere notwendige Hilfsmittel sind hier im Original zu bestaunen. Selbst ein Kinderbettchen mit Schaukelfunktion und eine Wärmflasche aus Metall fehlen nicht. Ein Hinweis von Margarete lässt mich aber erkennen, dass dies hier für die damaligen Zeiten gehobenen Standard darstellte, zu dem in gutbürgerlichem Hause auch ein Dienstmädchen gehörte. Dennoch, tauschen möchte ich auf gar keinen Fall. Hingegen das kleine Wohnzimmer nebenan, würde ich am liebsten der Hausdame abschwatzen. Die gute Stube der Familie Schraube ist ein Kleinod, das zum Schwärmen verleitet. Ich steh’ in der Tür und Margarete hinter mir genießt mein Staunen. Von diesem geschmack- und stillvoll eingerichteten Ambiente bin ich überwältigt, weil die Einrichtung und jedes kleine Detail darin, trotz der vielen Jahre auf eigenartige Weise einen Hauch Moderne atmet. Der große Kachelofen in der Ecke strahlt neben Wärme auch Gemütlichkeit aus und das Klavier lockt geradezu, ein paar Tasten zu drücken. Gemütlich und bequem laden die Sitzmöbel, sich auszuruhen, doch Margarete schüttelt mit dem Kopf. Der Bezug ist so alt, dass niemand weiß, ob er reißen würde und das wiederum wäre schade. Also bewundere ich die vielen Details, die mir viel eher als Rumstehchen und Einstäubchen bekannt sind. Doch gerade sie können uns, wie der unscheinbare Behälter für Tinte und Streusand, ein Nähkästchen mit Intarsien verziert oder eine lange Pfeife, viel über die Gewohnheiten der Familie und deren Tagesablauf in jener Zeit erzählen. Mir zuliebe öffnet Margarete sogar noch ihren Bücherschrank in der Ecke und gestattet mir, einen neugierigen Blick in die alte Literatur zu werfen. Ich schwanke zwischen Faszination und Bedauern, zwischen Schwärmerei und nüchternem Lächeln. Nicht nur bei den alten Bücherschätzen. Zu groß sind die Unterschiede zu dem, was unsere heutige „gute Stube“ ausmacht. Erst recht, wenn ich mir das Wohnzimmer einer heutigen Unternehmerfamilie vorstelle. Andererseits, vielleicht täte uns allen ein wenig mehr Demut und Zurückhaltung ganz gut. Ganz sicher sogar. Wieder zurück auf dem langen Flur fällt mir ein unscheinbarer Holzrahmen an der Wand auf. Darin sind Medaillen der Jahre 1926 bis 1931 zu sehen, deren Bedeutung sich mir erst auf den zweiten Blick erschließt. Mit wenigen Worten erläutert mir Margarete, dass sie sportlich war, Schwimmwettkämpfe bestritt und so ganz nebenbei auch als eine der ersten Frauen einen Sprung vom Zehn-Meter-Turm wagte. Respekt! Das hätte ich hier am allerwenigsten erwartet. In anderen Holzrahmen, die ebenfalls im Flur hängen, sind die typischen Sammelbilder jener Zeit zu finden, wie ich sie schon bei meiner Oma zu Hause sah. Vom Flur aus betreten wir nun die eigentliche Küche der Familie Schraube. Hier sind die Gegenstände aus deren Haushalt im Original zu sehen: Küchenherd, Tisch, Schrank, eine Waschgelegenheit und an der Wand eine Uhr mit den langen Ketten zum Aufziehen. Vor dem Fenster steht ein rustikales Etwas. Auf meine fragenden Blicke hin erklärt mir Margarete stolz, dass dies ein Eisschrank sei, zum Kühlen von Lebensmitteln bestens geeignet. Dafür verwendete man einen Eisblock, der das ganze obere Fach ausfüllte. Ich staune über die vielen Behältnisse, Töpfe und Schachteln auf den Regalen und erst recht über Gegenstände, deren Bedeutung sich mir nicht erschließen will. Ein Gerät zum Bohnen schnippeln ist nur eines davon. Auf das alte Bolzenbügeleisen könnte ich heute auch verzichten. Die Küche macht auf mich den Eindruck einer kleinen Wunderwerkstatt aus der Vergangenheit und Margarete lächelt, als ich ihr das sage. Ein Blick aus dem Küchenfenster auf den grünenden Hof holt mich schnell wieder in die Gegenwart zurück. Ganz am Ende des Flures befindet sich eine kleine, unscheinbare Tür und dahinter ein Raum, dessen Ausmaße einem kleinen Saal gleichkommen. Im Türrahmen stehend, verweile ich einen Moment, um die imposante Größe, ja die Erhabenheit dessen zu erfassen, was mich hier erwartet. Einen derartigen Raum hätte ich hier, am äußersten Ende des Gebäudes, nicht erwartet. Man sagt, dies wäre vielleicht auch die Erklärung dafür, dass hier alles, sogar bis zu der Tapete, im Original erhalten geblieben ist. Dermaßen viel Prunk und rustikale Schönheit hinter den Scheiben eines Hinterhofgebäudes würde hier wohl niemand vermuten. Margarete sieht mein Staunen, lächelt und erzählt mir von damals. Ich stelle mir die Bilder dazu vor, wie man hier mit Gästen, an der reichlich gedeckten Tafel unterm prunkvollen Kronleuchter, dinierte, in der Ecke neben dem gusseisernen Ofen sitzend seinen Wein trank oder wie Margarete im bequemen Schaukelstuhl sich mit einer Handarbeit beschäftigte. Das alles fühle ich in einem Prunkstück von Salon mit Blick auf eine reichlich verzierte Stuckdecke. Für einige Minuten spüre ich den Atem einer längst vergangenen Epoche, die ganz sicher ihre Reize, aber auch Schattenseiten hatte. Erst recht, wenn man einfacher Einwohner, Bauer oder gar Tagelöhner war. Da bleibe ich doch lieber der ich bin, wo ich bin und wie ich lebe. Margarete sage ich lieber nichts von solchen Gedanken. Margarete führt mich den Flur wieder zurück bis zur Treppe. Sie erzählt, dass sie bereits zu Lebzeiten entschieden hatte, ihr gesamtes Erbe, da keine Nachkommen mehr lebten, der Stadt Halberstadt zu übereignen und damit zukünftigen Generationen. Eine großzügige Entscheidung mit sehr viel Weitsicht in die Zukunft, mit viel Herzblut und Vertrauen in ihre Stadtväter der ausgehenden 1970er Jahre. Für diese visionäre Geste hat sie bis heute die Achtung der Halberstädter und auch ich verbeuge mich nun vor der Hausherrin. Allerdings eher symbolisch, denn die sachkundige Dame mir zur Seite ist natürlich nicht Margarete Schraube in Person, sondern Sylvia Fricke vom Schraube-Museum. Bei ihr, die mir die sachkundige Begleiterin durch die Wohnwelt von Familie Schraube war und mich gern gewähren ließ, möchte ich mich bedanken. Den Gang durch den Torbogen, über den Innenhof bis zum Eingang des Schraube-Museums empfehle ich jedem, der Zeit in Halberstadt verbringen möchte. Es lohnt sich!
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, zufälligen Begegnungen und Entdeckungen im Harz.