Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, zufälligen Begegnungen und Entdeckungen im Harz.
Am Fenster - Stieglitz im Geäst Mai 2021 Es ist der letzte Tag im April, nachmittags, der Vorabend des 1. Mai. Für Morgen wurde etwas Regen angekündigt, doch heute scheint die Sonne in mein Fenster. An meinem Schreibtisch sitzend, kann ich hinaus schauen. Direkt vor meinem Fenster entfaltet ein Weißdorn sein dichtes neues Blätterdach. Das frische Grün erfreut die Augen. Deshalb schaue ich gern und oft dahin und negiere die Geräusche der Straße darunter. Der Baum verwehrt mir teilweise den Blick auf das rote Mauerwerk auf der anderen Straßenseite. Wenn er Ende Mai seine weiße Blütenpracht voll entfaltet haben wird, kann ich mich an dem Kontrast der Farben erfreuen. Manchmal erwischen meine Augen ein Flattern im Geäst, aber selten bleibt der Verursacher sitzen. Im nächsten Augenblick ist das Flattern wieder verschwunden. Irgendwann gibt es wieder einen Moment und dann sehe ich plötzlich einen kleinen bunten Fleck im Geäst. Nanu, der passt doch gar nicht dort hin! Vorsichtig und ganz langsam erhebe ich mich. Ein kleiner bunter Vogel sitzt dort, keine drei Meter vom Fenster entfernt. Wir schauen uns beide an, aber der kleine Buntmatz macht keine Anstalten, vor mir zu fliehen. Also greife ich nach der Kamera, öffne vorsichtig und ganz langsam das Fenster, um diesen besonderen Augenblick zu digitalisieren. So, mein Kleiner, jetzt habe ich Dich. Schwarz- weißes Köpfchen und einen roten Klecks auf der Stirn, das Gefieder hellbraun und die Flügel mit schwarzen und gelben Streifen. Wer bist du, wie heißt du und wohin willst du? Dann ist er weg, so plötzlich wie er kam, auch wieder verschwunden. Also setze ich mich wieder und widme mich meinem Text, einer Nachbetrachtung. Schon bald ist das Intermezzo vergessen. Die Äste wiegen sich leicht im Wind und die Abendsonne strahlt auf die rote Klinkerhauswand gegenüber. Am nächsten Morgen sitze ich wieder am Schreibtisch, um weitere Gedanken aufzuschreiben. Als ich den Kopf hebe, sitzt der kleine Buntmatz wieder mitten im grünen Geäst des Baumes. Ich stehe, um ihn zu betrachten, da verschwindet er, doch Minuten später flattert er wieder am Fenster vorüber. Jetzt setze ich mich auf einen Hocker direkt an das offene Fenster. Na warte, Bürschchen, diesmal erwische ich Dich! Mit der Kamera liege ich auf der Lauer, beinahe wie ein Entdecker im Urwald, flüstert mir meine wilde Fantasie. Endlich flattert es wieder. Ich zücke die Kamera und ehe ich abdrücken kann, sehe ich zwei Exemplare in einer Astgabel weit oben „werkeln“ und „hantieren“. Sie fliegen weg, sind nach wenigen Minuten aber wieder da und „werkeln“, kleben etwas an die Äste. Im Laufe des Tages wird draus ein kleiner Klumpen und dann fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren. Die beiden bauen sich ein Nest! Mir gelingt es eine ganze Serie von Fotos zu „schießen“ und auf diese Weise den Bau des Eigenheimes zu dokumentieren. Bis zum Spätnachmittag sitze ich immer wieder einmal am Fenster, betrachte das emsige Treiben und freue mich dabei wie ein kleiner Junge. Der ältere Herr neben mir hat inzwischen längst vergessen, dass die Welt da draußen über Corona fabuliert und die ganz Schlauen die Welt neu zu erklären versuchen, ohne Belege vorweisen zu können. Dieser Egoismus ist den beiden Piepmätzen völlig fremd. Als ich mir später die Fotos auf dem Bildschirm anschaue, wird die Neugier wach. Ich erinnere mich, so ein Foto vor Jahren schon einmal gemacht zu haben. Beim Durchsuchen meiner Bilddateien finde ich schließlich den gleichen Buntmatz. Meine ehemalige Biologielehrerin, Gisela Schuster, könnte mir jetzt sicher sagen, wenn ich da entdeckt habe. Aber Gisela lebt leider nicht mehr, sie starb 2013 an Krebs. Mir bleibt nur, Mr. Google, den „Alleswisser“, zu fragen. Dort finde ich Erklärungen und viele Fotos vom bunten Stieglitz. Jetzt bin ich schlau, begreife, was vor meinen Augen geschieht und was demnächst vielleicht passieren könnte. In den nächsten zwei Tagen nimmt das Nest Gestalt an. Es füllt eine Astgabel mit drei Abzweigungen vollständig aus. Von unten ist es sicher kaum zu entdecken und auch sonst bestens getarnt. Nur mir ist aus irgendeinem Grunde vergönnt, zwischen zwei größeren Ästen hindurch freien Blick zu haben, zumal das kleine Bauwerk quasi auf einer Höhe mit meinem Fensterbrett gebaut ist. Vielleicht, denke ich mir, haben die beiden nichts dagegen, wenn ich zusehe. Genau das mache ich von nun an täglich und regelmäßig. Insbesondere jeden Morgen bin ich neugierig, was mich erwartet und so staune ich nicht schlecht, dass ich am nächsten Tag zwar ein fertiges Nest sehe, aber keinen Stieglitz entdecken kann. Den ganzen Tag über warte vergeblich und erst im Licht der Abenddämmerung sehe ich einen kleinen Kopf aus dem Nest ragen. Meine kleine Stieglitz*ine sitzt im Nest. Wenn ich mich nicht sehr täusche, brütet sie. Es wird spannend. Der Morgen darauf sieht mich nach dem Kaffee wieder am Fenster. Stieglitz*inchen sitzt und brütet. Allein. Der Herr Gemahl ist weder zu sehen, noch zu hören. Inzwischen erkenne ich beide nämlich an ihrem typischen „stiglitt“. Die blanke Neugier hält mich am Hocker fest, lässt mich warten und hoffen. Plötzlich wird Stieglitz*inchen unruhig, wendet ihr kleines Köpfchen hin und her, sie schaut nach oben und dann ist ihr Stieglitz da. Ehe ich reagieren kann, klammert er sich neben dem Nest an einem Ast und füttert von dort die Liebste von Schnabel zu Schnabel. Das geht ziemlich schnell und geräuschlos, doch zum Glück habe ich den Finger am Auslöser und drücke - mehrmals. Und dann ist er auch schon wieder auf und davon, während sie sich ins Nest zurück verzieht und sich einkuschelt. So wird sie die nächsten Stunden verbringen und morgen, das weiß ich inzwischen, wird die gleiche Zeremonie fast zur selben Zeit wieder stattfinden. Eine Woche lang, Tag für Tag, mittags sowie abends und vielleicht dazwischen auch. Keine Ahnung, aber ich schaue zu. Ich bin zwar ein Rentner, aber kein vom Fenster-auf-die-Straße-Gucker! Am Abend sitzt der kleine Stieglitz auf einem Baum auf der anderen Straßenseite. Dieser Baum ist ein Rotdorn, während der vor dem Fenster als Weißdorn steht. Stieglitz weiß davon nichts. Er sitzt einfach ganz weit oben auf einem Ast, kehrt mir und dem Stieglitz*inchen den Rücken zu und nur manchmal wendet er den Kopf zurück. Stolz und in voller Pracht! Am Abend danach vollführt er das gleiche Spiel, nur diesmal vor meinem Fenster auf dem Weißdorn. Er sitzt auf einem Ast und zeigt mir sein Gefieder, der kleine Prahlmatz. Dann gibt er vor, seine Stieglitz*ine zu beschützen, aber in Wirklichkeit zeigt er sich in allen möglichen Posen. Eitel ist er also auch, doch auf diese Weise gibt er mir eine Chance, ihn mit seinem schönen Gefieder digital abzulichten. Dieser Typ sieht einfach faszinierend aus und er weiß es. In der Nacht prasselte ein Regen nieder. Die Natur hatte schon darauf gewartet, beim Stieglitz bin ich mir nicht sicher. Der Weißdorn vor meinem Fenster glitzert in der Morgensonne mit tausenden kleinen Wassertröpfchen. Alle Äste triefen vor Nässe und hängen schwer nach unten. Der Blick auf das Nest von Familie Stieglitz ist versperrt. Mir bleibt nur zu hoffen, dass Stieglitz*inchen den „Rohrbruch“ gut überstanden hat. Meine Sorge ist allerdings unbegründet, denn schon bald erlebe ich den Stieglitz am Nest bei der Fütterung und anschließend, wie er durch das nasse Laub hindurch entschwindet. Wieder nimmt der Tag seinen inzwischen eingespielten Verlauf und ich warte auf das, was kommen wird. In den nächsten Tagen bleibt es regnerisch. Das Blattwerk ist feucht und die Blütenbüschel im Baum wachsen, werden bald blühen. Das Laub ist jetzt dicht. Es gestattet mir nur noch selten einen Blick auf das Nest des Stieglitzpaares. Zwar sitzt Stieglitz*ine noch immer im Nest, aber ob das Brüten ist, bin ich mir nicht mehr so sicher. Am nächsten Morgen sehe ich den kleinen Stieglitz vom Schreibtisch aus immer mal wieder flattern und plötzlich auch zwei andere Vögel. Unbeholfen springen sie im grauen Federkleid von Ast zu Ast, ducken sich und verschwinden im dichten Geäst. Das könnten vielleicht die jungen Piepmätze sein! Das Stieglitzpärchen scheint beide zu füttern, aber ich kann sie dabei kaum noch beobachten, geschweige denn, vor die Linse bekommen. Es will einfach nicht funktionieren. Am nächsten Morgen wieder das gleiche Spiel im dichten Blätterwald und dann sind sie entfleucht, weg, verschwunden. Den ganzen Tag lang und den nächsten und übernächsten auch. Das war’s dann wohl. Das finale Foto bleibt mir verwehrt und vielleicht ist das auch gut so. Ich sitze sicher auch im nächsten Jahr an diesem Schreibtisch und schaue zum Fenster. Im übernächsten Jahr sicher auch, dann wieder und wieder. Irgendwann werden sich ein neuer Stieglitz und ein Stieglitz*inchen den Weißdorn zum Nestbau ausgeguckt. Dann gucke auch ich wieder hinaus und bestimmt auch wieder zu.