Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Die Eroberung der Nummer 1 an der Eckertalsperre
06.07.2023
Inmitten immer noch dichter Wälder und quasi zu Fuße des Brocken glitzert hell eine Wasserfläche im Sonnenlicht: die
Eckertalsperre zwischen Bad Harzburg und Torfhaus. Am Rande der Staumauer lockt ein kleiner grüner Kasten und
darauf steht die Nummer 1 der Harzer Wandernadel. Viele Stempel sind inzwischen in meinem Wanderpass gelandet,
doch der mit der Nummer 1 fehlte noch – bis heute.
Schuld ist mein Enkel, dem, und anderen Kids, an diesem Tag der Kindergarten verschlossen bleibt. Also müssen die
Großeltern einspringen. Denen ist aber das nur Einspringen zu wenig. Wir haben die Idee, daraus einen Wandertag zu
machen. Also fahren wir zu frühzeitiger Rentnerstunde nach Goslar, laden den kleinen Mann ein und fahren in großem
Bogen über die B6 zurück bis Bad Harzburg. Dann durch das schmucke Städtchen hindurch bis zum Radau Wasserfall.
Nur wenige Meter weiter stellen wir das Gefährt auf dem Wanderparkplatz am Taternbruch ab. Von hier aus wollen wir
diesen Stempel mit der Nummer 1 am Eckerstaudamm erobern und in den Wanderheften verewigen. Auf unsrer Karte
sind es nur reichlich drei Kilometer zu wandern, wenn man die kleine Abkürzung entlang am Lohnbach nimmt. Genau
das ist unser Plan. Die einhundertfünfzig Meter Höhenunterschied lächeln wir wie stets gekonnt beiseite. Auf der Karte
ist das ein Klacks! Wir schultern unsere Rücksäcke, ich nehme meinen Wanderstab zur Hand und dann starten wir
unsere „Expedition Stempelkasten“. Da ist es genau 8.30 Uhr und ein angenehm frischer Rentnermorgen im Harz.
Die ersten Schritte führen uns auf einer schattigen Asphaltpiste in den Wald hinein. Im Tal neben uns rauscht die Radau
abwärts und wir ihrem Lauf entgegen. Eine kleine Hütte am Ufer entpuppt sich als Quelle mit schwefelhaltigem Wasser.
Ich befülle meine Flasche mit frischem Nass aus dem Flüsschen. Wir gehen weiter und bald an einem Häuschen vorbei.
Vor der Haustür wachen geschnitzte Tiere über jeden, der Einlass wünscht. Wir aber wollen weiter, tiefer in das Tal
hinein. An einer Abzweigung, wo, aus den Bergen kommend, der Lohnbach sprudelt, legen wir für den Knirps eine Rast
ein. Dass dies der Einstieg in die Abkürzung darstellt, ist nicht ersichtlich, also ahnen wir auch nichts. Zu unserem Glück,
wie sich Stunden später noch herausstellen wird. Es ist wieder einmal der unübersichtlichen Ausschilderung im Westharz
zu danken bzw. geschuldet. Unser Kleiner ist noch müde, lässt sich aber nach diesem kleinen Snack motivieren, mit uns
weiter zu wandern. Was soll er auch sonst machen?
Wir verlassen also den von uns unbemerkten Einstieg in die steile Abkürzung und folgen dem Asphalt der Strasse durch
das Tal. Weiter und weiter, Kurve um Kurve und dabei stetig und kaum spürbar in die Höhe. An einer 180°-Kehre stellen
sich Zweifel ein, aber der Blick auf das Handy bestätigt – alles ist richtig. Inzwischen reckt sich auch die Sonne über die
Berge. Ich habe mich warm gelaufen, aber dem Knirps fehlt die Lust. Doch zurück ist längst keine Option mehr und die
Omi hat ein geschicktes Händchen, den Enkel alle hundert Meter neu zu motivieren: Ein Blick ins Tal, ein Käfer am
Rand, eine wild wachsende kleine Erdbeere oder gar die rauen Felsen der Abtklippen am Wegesrand. So bemerkt der
Kleine gar nicht, wie wir langsam, aber stetig, auf unsere nächste Rast zu wandern. An der Alten Pferdetränke ist die
reichliche Hälfte der Strecke hinter uns gebracht.
Von hier oben hat man einen wundervollen Blick über die nahen Berge. Die Alte Pferdetränke ist eine Quelle mit
Trinkwasser sowie ein idyllisch gelegener Rastplatz mit Sitzgelegenheit ziemlich weit oben. Der Ausblick ist gigantisch
und man sieht auch, wie die kahlen Flächen allmählich wieder junges Grün zwischen kahlen Baumstümpfen zeigen. Auf
der rustikalen Bank nehmen wir den nächsten Imbiss und Knirps einen Schluck Quellwasser. Bald ist seine Motivation
wieder da. Wir wandern an einer Lichtung entlang. An diesem Wochentagsvormittag trifft man hier oben selten andere
Bewegungssüchtige. Seit unserem Start auf dem Parkplatz sahen wir keine Wanderer, nur vereinzelte Mountainbiker.
Dabei ist die Landschaft in dieser Ecke vom Harz mindestens ebenso zauberhaft, wie an mach bekannterem Ort auf den
Höhen. Diese Berge waren bis vor einigen Jahren noch dicht bewaldet, Fichten dicht an dicht säumten die Wege. Wir
haben inzwischen freie Aussicht über Lichtungen mit Baumstümpfen. Was die einen bedauern, schenkt den anderen die
Weite und Freiheit der Bergwelt. Ich genieße die Ruhe, die Weite und den Wind, der frei über die Lichtungen streift, wo
einst Fichten in Reih und Glied standen. Dabei geht es unmerklich immer weiter aufwärts, bis an einer Wegkreuzung ein
Häuschen erscheint: die Luisenbank, der höchste Punkt unseres Ausfluges.
An der Luisenbank, auf rund 600 Höhenmetern, die gleichzeitig eine Bushaltestelle ist, treffen sich gleich mehrere
Wanderwege in verschiedene Richtungen. Wir kamen vom Radaufall und könnten weiter zum Molkenhaus gehen und
dort Stempel Nr. 169 einkassieren. Andere kommen von daher und wollen von hier aus zum Brocken, während wir den
Weg hinab ins Eckertal zum Staudamm wählen. Von diesem Moment an genießen wir einen fantastischen Blick über die
Wälder bis zum Brockenplateau. Uns trennen nur noch schlappe acht Kilometer teils steiler Wanderweg vom Gipfel des
höchsten Berges im Harz. Der scheint uns zum Greifen nah vor der Nase und im Sonnenlicht mit Wolken majestätisch
schön. Diesen Anblick, gleich aus welcher Richtung und zu welcher Jahreszeit, genieße ich jedes Mal neu.
Auch hier oben sprießen überall junge Bäume zwischen dem abgestorbenen Holz aus dem Waldboden. Rosa Fingerhüte
neben grauen Baumstümpfen, die Welt ist ein ständiges Werden und Vergehen. Im Harz kann man das sehr gut
beobachten, während sich vor uns der Blick auf den Eckerdamm mit dem Stausee dahinter, auf rund 540 Metern, öffnet.
Nur noch eine Spitzkehre und dann stehen wir vor dem Stauwerk, das dem Wasser eine Tiefe von 65 Metern verpasst.
Erst einmal stehen bleiben, genießen und staunen, während die Augen nach dem Stempelkasten Ausschau halten. Den
entdecken wir auf der anderen Seite und weil wir ohnehin die Staumauer aus der Nähe sehen und den Stempel haben
wollen, steigen wir über ein paar Stufen hinab zum Damm.
Nach drei Stunden stehen wir endlich auf der Mauer und der Knirps sieht staunend auf die dunkel und silbern glitzernde
Wasserfläche mit dem Brocken dahinter. Was für faszinierende Blicke zu dem Berg und die Wälder im Harz mit den
grauen Flecken dazwischen. Das wird schon, denke ich, und der Enkel wird später in meinem Alter nichts mehr von
diesen tot-grauen Flecken sehen, wenn – ja wenn es uns gelingt, all die Wahnsinnstaten der Menschen in ihr Gegenteil
zu kehren. Diese Gedanken schießen mir durch den Kopf, als ich mitten auf der Mauer einen Grenzpfahl aus Beton, mit
schwarz-rot-goldenen Streifen entdecke. Darauf steht in Großbuchstaben auf der einen Seite BRD und auf der anderen
DDR. Unser Enkelkind kann das schon nicht mehr richtig einsortieren und was er später erfahren soll, wird auch nur
noch eine Halbwahrheit, verdreht von politischen Interessen, sein. Was wird er von meinem Leben im Dämmerlicht der
Geschichtsdeutungen einmal halten?? Wann gehen wir endlich ehrlich mit allen Facetten jeder vielschichtig gelebten
Biografie im DDR-Alltag um?? Fragen über Fragen.
Auf der anderen Seite der Mauer angelangt, erblicken wir den ersehnten Stempelkasten. Wir drücken die Nummer 1 in
jeden Wanderpass und wollen nun die große Pause machen. Doch es gibt an dieser Stelle, wieder einmal, keine Bank.
Nur ein paar unbequeme Gesteinsbrocken – ach ja, wir sind ja auf der Ostseite! Also wieder zurück in der Hoffnung, es
im Westen bequemer vorzufinden. Wie schon oft im Leben, erweist sich dieser Gedanke natürlich auch als Irrtum. Wir
missbrauchen deshalb die Stufen zur Staumauer als Sitzgelegenheit und machen das Beste sowie ein kindliches
Abenteuer aus dieser Situation. Dem Kleinen gefällt es und das ist letztlich entscheidend. Bevor wir den Rückweg
antreten, erkundige ich mich bei einem, den ich beim Pflegen (mit Hörschutz) der Außenanlage erschrecke. Nun weiß
ich, wo wir abbiegen und so zwei Kilometer Asphalt schonen werden.
Wir steigen auf zur Luisenbank, treffen eine Gruppe Wanderer und finden, eine Viertelstunde später, den schmalen
Abstieg in das dichte Unterholz hinein. Dieser Trampelpfad soll uns jede Menge Zeit und Weg sparen. Es geht ziemlich
schnell abwärts, stets an Sträuchern und Gestrüpp vorbei. Unser Knirps hat jede Menge Spaß dabei, überall etwas zu
entdecken, während ich etwas vorsichtiger stolpere, um meine Knochen zu schonen. Doch schon bald erweist sich
dieses Vorhaben als nahezu unmöglich. Wie aus dem Nichts ist der steile Pfad über und über mit Steinen und Geröll
gepflastert. Für jeden Schritt benötigt man volle Aufmerksamkeit und als sich dann noch der Lohnbach, aus dem Hang
kommend, über den Stolperweg ergießt, wird das Ganze, zumindest für mich, zur Tortour. Ich muss höllisch auf jeden
Schritt achten, um auf den nassen Steinen und dem glitschigen Untergrund nicht ins Rutschen zu geraten. Als uns auf
diesem Abschnitt von unten ein Pärchen mit Kinderwagen entgegen kommt, stockt mir der Atem. Doch schon wenig
später folgen ihnen zwei Mountainbiker hinterher. Manchmal hat man im Harz wirklich Begegnungen der besonderen
Art. Der Anblick eines Kinderwagens, der über ein steiniges Wasserrinnsal bergauf geschoben wird, dieses Bild werde
ich so schnell nicht vergessen.
Letztlich überwinden wir den steilen Wasserpfad abwärts wohlbehalten. Zu unserem Erstaunen treten wir an jener Stelle
aus dem Wald, an der wir Stunden zuvor eine erste Rast auf Holzstämmen hatten. Der Zufall und schlechte
Beschilderung haben dafür gesorgt, dass wir ziemlich angenehm zum Damm und dem Stausee, eben nur zwei Kilometer
mehr, laufen konnten. Ich mag mir die Quälerei auf dem nassen Geröll aufwärts lieber nicht vorstellen, wenn wir diese
Abkürzung entdeckt hätten. So wie es sich ergab, war es genau richtig und gut. Auch diesmal halten wir inne, um uns
zu erfrischen sowie unsere letzten Speisereserven zu vertilgen. Das kalte Wasser aus der Flasche tut meinem Gesicht
gut, denn die grelle Sonne hat ganz Arbeit geleistet. Die letzten paar hundert Meter läuft unser Enkelkind ziemlich locker
dem Parkplatz entgegen und auch ich bin froh, nach sechs Stunden und knapp zehn Kilometern, mich in den Fahrersitz
fallen zu lassen. Es sieht wohl eher nach hineinkriechen aus, aber das ist mir ziemlich egal, als die Räder wieder durch
Bad Harzburg Richtung Goslar rollen. Im Gepäck unsere Wanderhefte mit der eroberten Nummer 1 in jeden Stempelheft
und einem sichtlich stolzen und müden Enkelkind auf dem Rücksitz.