Die Ottofelsen – Kegelplatz der Harzriesen
29.07.2016
Eigentlich ist es ganz einfach. Man nimmt sich eine Wanderkarte vom Harz, sucht sich sein Wunschziel aus und dann schaut
man, wie es zu erreichen wäre. Hinter dem Ort ist ein Parkplatz und von da aus, so denkt man sich, gehst Du die drei
Kilometer durch das Tal bis zur Hütte der Bergwacht. Von dort bis zum Ottofelsen sind es noch knapp 600 Meter – kein
Problem. Im Gedanken sehe ich mich weiter bis zur Steinernen Renne und die wenigen Schritte bis zu den Wodans- oder
Renneklippen laufen. Für den Rückweg hatte ich mir schon eine andere Route ausgedacht, um den gleichen Weg nicht zwei
Mal gehen zu müssen. Laut Karte alles kein Problem. Dass Wernigerode sich auf rund 250 Höhenmetern breit macht, die
Bergwacht aber auf 560 Metern liegt, übersieht man geflissentlich. Immerhin sind das 100 Meter Steigung pro
Wanderkilometer. Doch davon hat man beim Betrachten einer Karte nicht die geringste Vorstellung und Karten mit Profil
habe ich noch nie gesehen.
Von Halberstadt bis Wernigerode fährt man fünfzehn Minuten durch die Felder. Nur in Derenburg und Silstedt muss man ein
wenig vom Gas. Dahinter hat man freien Blick auf den Brocken, der sich heute in eine Wolkenkappe hüllt. Durch
Wernigerode hindurch bis zum Ortsausgang Hasserode braucht man noch einmal die gleiche Zeit. Das Städtchen macht sich
lang und die Straße steigt ganz allmählich an. Die Einfahrt zum versteckten Parkplatz am Waldrand hätte ich beinahe
übersehen. An der Wiese bleibt das Gefährt stehen. Hier beginnt unser kleines Abenteuer mit einem ökologischen Lehrpfad
an einem Bach entlang, der oben aus den Bergen kommt.
Schon die ersten Schritte entführen in eine andere Welt, auch wenn man die Motorengeräusche der Straße noch hören
kann. Das Licht der Sonne dringt dort nur bis zum Boden oder bis zum Wasser, wo das Blätterdach Lücken aufweist. Ein
bizarres Spiel von Licht und Schatten fasziniert jeden Wanderer. Plötzlich findet man sich inmitten von natürlicher Ruhe und
Gemächlichkeit. Zeit scheint keine Rolle zu spielen und so laufe ich ganz entspannt den Weg oberhalb des Baches entlang.
Zwei Männer stehen im Wasser und klopfen auf Steinen herum. Auf meine Frage hin, was sie da tun, erfahre ich, dass man
hier Mineralien finden könne, nach denen sie suchen. Ich sehe nur wild gewachsenen Wald, ein Chaos aus Stämmen,
Sträuchern und Steinen und die beiden suchen darin nach glitzernden Grubenerzen. Ist das nicht toll?
Noch ein Stück weiter am Bach entlang, steht man überrascht vor einem großen Wasserrad, an dem eine eigenartige
Pleuelstange ein Gestell in Bewegung hält. Ich stehe vor einem Nachbau einer alten Pumpe mit Feldgestänge, wie sie hier
früher im Bergbau benutzt wurde. Wasserkunst Thumkuhlental nennt man diese Stelle und die befindet sich am Ende des
Bergbaulehrpfades und ist gleichzeitig eine Stempelstelle für die Harzer Wandernadel. Das Viereck mit der Nummer 85 in
meinem Wanderheft hat hier seinen Stempel aufgedrückt bekommen.
Doch dies hier ist gerade einmal der Anfang der Wanderung und eine Überraschung dazu, die so nicht geplant war. Von
jetzt an führt der Weg in den Wald hinein und stetig nach oben. Ich komme mir wie ein Entdecker vor, der unbekanntes
Terrain betritt und sich auf kleine Entdeckungen freut. Eine solche findet man seitlich einer Brücke, über die die
Brockenbahn zwischen Steinerne Renne und Drei Annen Hohne fahren muss. Ein Gedenkstein erinnert an ein Bahnunglück
im Juni 1927 und die Opfer, die es gefordert hatte. Ein kleines Stück aus dem Schotterbett der Bahn entnommen, liegt nun
auch von uns dort, wo auch die Lok verschrottet wurde und an die Kehrseite der Eisenbahnromantik erinnert.
Hinter der Brücke öffnet sich das Tal. Rechts und links ragen die Berge schroff nach oben und Bäume, von Wind und Wetter
gezeichnet, säumen den Weg. Vom blauen Himmel brennt jetzt die Sonne und nur selten gönnt uns eine Wolke ein wenig
Schatten. Als ich schon glaube, eine Hütte der Bergwacht erreicht zu haben, führt der Weg über eine Brücke hinter der sich
das Tal wie ein gewaltiger Trichter auftut. Dies muss der ehemalige Steinbruch sein, denn überall an den Hängen sieht man
Felsbrocken und ganz oben, dem Himmel nah, ragen felsige Kanten gen Himmel. Es ist ein faszinierender Anblick und
wieder stelle ich fest, dass es außer der Rosstrappe und dem Hexentanzplatz noch zahlreiche andere reizvolle Orte im Harz
zu entdecken gibt.
Von einer Hütte ist hier weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen schlängelt sich der Weg, jetzt sehr viel steiler, am linken
Berghang weiter nach oben. Eine Stunde im gemächlichen Schritt, die Natur um uns genießend, gehen wir nun schon und
meine Kleidung ist nass vom Schweiß. Es nützt nichts, eine richtige Rast ist erst an der Hütte der Bergwacht geplant, die,
so die Hoffnung, hinter jeder nächster Biegung auftauchen müsste. Doch dahinter führt der Weg weiter aufwärts bis zur
nächsten Kurve, wo das Spiel von vorn beginnt. Die kleine Lily tippelt mit ihren vier kurzen Beinchen den ganzen langen
Weg neben uns und zwischen uns hin und her. Wenn ich einen Schritt gemacht habe, sind es bei ihr sicher fünf.
Wahrscheinlich fragt sie sich gerade, ob ihre beiden Menschen noch bei Verstand sind, als ganz oben zwischen den Bäumen
ein Dach hindurch schimmert. Nur noch wenige Schritte, zwei oder drei Minuten mit dem Ziel vor den Augen, und dann ist
die Berghütte endlich erreicht. Pause!
Die kleine Hütte steht an einer Weggabelung. Geradeaus geht man weiter Richtung Drei Annen Hohne und rechts führt der
Weg höher hinauf bis zur Steinernen Renne, einem Bergrücken mit Gasthaus auf der anderen Talseite. Wir wollen den
Ottofelsen (be)suchen, der irgendwo nach der Hälfte der Strecke zu finden sein muss. Doch erst einmal bekommt Lily
etwas zum Saufen und ich kühle mein Gesicht mit dem Wasser des Baches, der uns bis hierher begleitet hat. Beim Sitzen
im Schatten spüre ich, wie sich meine Muskeln abkühlen und deshalb möchte ich gern weiter wandern. Das Schild kündigt
noch einen knappen Kilometer bis zum Fels an.
Wir sind jetzt auf über 560 Höhenmetern. Während zu Beginn der Wanderung noch viele Laubbäume den Weg säumten,
sind wir jetzt, 300 Meter höher, im Nadelwald angekommen. Die Sonnenstrahlen zwängen sich zwischen den schlanken
Bäumstämmen hindurch und tauchen den Wald um uns in ein abwechslungsreiches Spiel aus Licht und Schatten. Am
Boden gibt es viel weiches Moos und überall liegen große Gesteinsbrocken herum. Auf der rechten Seite türmen sie sich zu
einem Haufen, der wie eine Harzer Sphinx anmutet. Man könnte ins Schwärmen und Fabulieren kommen. Doch ich
schwitze und meine Füße setzen sich jetzt automatisch voreinander, immer weiter und immer höher. Da vorn ist wieder eine
helle Lichtung, an der sich die Wege verzweigen. An einem der Baumstämme, ziemlich gut versteckt, finden wir ein kleines
Schildchen: Ottofelsen, 100 Meter!
Unsere Schritte führen jetzt direkt in den Wald hinein. Es geht über riesige Gesteinbrocken, zwischen ihnen hindurch und
daran vorbei nach oben. Hier sieht es aus, als hätten Riesen mit Steinen gespielt, hätten mit ihnen gekegelt oder wie beim
Boccia geworfen und dann einfach alles so liegen gelassen. Diese letzten hundert Meter haben es noch einmal in sich und
dann, ganz oben, zeigt sich im Licht der Sonne ein riesiger Felsbrocken, der alle Bäume überragt. Wir sind zwei Stunden
immer nur aufwärts gelaufen, haben geschwitzt und gestöhnt und nun endlich auch den Ottofelsen gefunden. Wie schön!
Ich sitze auf einem riesigen Gesteinshaufen aus Granit, eingeklemmt zwischen Wänden aus Stein und gigantischen
Brocken, die überall herumliegen und diesem Waldplatz eine ganz besondere Stimmung verleihen. Der eigentliche
Ottofelsen ragt wie eine gewaltige Nadel aus Granit 36 Meter in den Himmel und über die Baumwipfel hinaus. Über eine
steile Leiter, die einem Geschick und auch eine gewisse Überwindung abverlangt, steige ich nach oben. Als ich meine,
angekommen zu sein, begrüßt mich ein Herr meines Alters und meint: „Nur Mut, es geht noch einige kleine Treppen weiter
aufwärts!“ Doch schon hier, in Höhe der Baumspitzen, ist der Blick faszinierend, aber noch nicht weit genug. Also auch die
andere kleinen und schmalen Treppen überwunden und dann stehe ich endlich ganz oben, voll im Wind.
Was für eine grandiose Aussicht! Welch atemberaubender Rundblick über nahezu den ganzen Harz! Es ist schlicht
überwältigend, hier oben zu stehen, nur einen kleinen Fleck Granitgestein unter den Füßen und ein grobes Geländer aus
Stahl zum Festhalten. Nichts sonst, beinahe frei wie ein Vogel, von den Winden getragen. Könnte ich jodeln, jetzt wäre ein
guter Moment, es zu tun. Doch ich staune nur und genieße dieses Panorama, das ich in einem 360° Rundumblick zu
meinen Füßen bestaunen kann. Nur der Brocken, rund 20 Kilometer von hier entfernt, ragt noch höher aus den Bergen
heraus. Jetzt ist er sogar frei von Wolken. Ich sehe über den gesamten Hochharz, blicke in das Tal zu meinen Füßen, das
sich bis nach Wernigerode streckt, von wo wir gekommen sind. Über all die Bergrücken und Täler kann ich sehen und
beinahe glaube ich, dass dieses Panorama noch schöner, als das vom Brocken ist, weil es den Berg mit seinen Aufbauten
einschließt. Wer im Harz Urlaub macht, sollte sich den Fußweg hierher unbedingt gönnen und diesen umwerfenden Ausblick
auf rund 620 Höhenmetern auch. Er wird begeistert sein.
Wieder runter vom Granitgestein, verweilen wir noch ein wenig und gönnen der Lily noch etwas Ruhe, ehe wir uns auf den
Weg zurück machen. Eigentlich könnte man von hier aus über die Gegenseite des Tales, die Steinerne Renne, zurück
wandern. Uns genügen diesmal der Stempel vom Ottofels und der Blick in die Weite. Der Rückweg wird es in sich haben,
wie ich bereits aus eigener Erfahrung, entlang des Bahnparallelweges von Schierke, erfahren durfte. Unten wird sich das
ein zweites Mal bestätigen, doch das ahne ich in diesem Moment nur. Zunächst läuft es sich leicht und locker bis zum
Häuschen an der Weggabelung. Danach geht es mehrere hundert Meter steil abwärts, wo mir noch eine Stunde zuvor der
Schweiß aus allen Poren drang. Jetzt muss ich bei jedem Schritt bremsen, statt steigen und ganz allmählich spüre ich das
auch im Rücken. Deshalb machen wir noch eine kleine Rast am Eingang zum Steinbruch. Hier kann man süße wilde
Himbeeren pflücken und das Blühen vieler Pflanzenarten bewundern. Für mich ist es immer wieder faszinierend, diese
Farbenpracht, die mich vor Jahren noch nicht interessiert hat, zu bestaunen und zu genießen. In jüngeren Jahren wäre ich
hier wahrscheinlich leichten Fußes vorbei gelaufen. Jetzt, wo mir das Laufen manchmal schwer fällt, kann ich das Wunder
der Natur genießen. Manchmal denke ich, dass Alter eigentlich ein schwer zu fassendes Phänomen ist, das man oft erst
dann begreift, wenn es mit uns schon wieder ein Stück weiter voran fortschritten ist und uns reifer gemacht hat. Plötzlich
erkennt man Dinge und Zusammenhänge, für die uns die Hatz der jungen Jahre keine Zeit ließ. Wenn wir dann plötzlich
Zeit zu haben scheinen, wird sie uns knapp. Eine Melodie aus meinen jüngeren Jahren begleitet mich leise, während ich
dem Weg zurück ins Tal folge: „But I was so much older then, but younger than that now“, (Bob Dylan, „My Back Pages“)
Jetzt bin ich „so viel älter, als damals, aber auch jünger wie einst“, was meine Möglichkeiten zu lernen und zu begreifen
anbelangt. Ich habe gelernt, diese Zeit besser zu genießen und einzuteilen. Dies ist einer der Gründe, weshalb meine Füße
heute wieder durch den Harz gewandert sind und ich dankbar bin, dies noch tun zu dürfen. So erreiche ich den Parkplatz
„mit Müh’ und Not“, aber der Tag ist nicht fern, da ich wieder zu einer solchen Tour aufbrechen werde. Mal sehen, welches
Ziel dann die Karte bereithalten wird.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.