Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Auf steilen (Um)Wegen zur Himmelspforte
01.11.2024
Der Herbst bläst zum Endspurt und bunte Blätter von den Bäumen. Bald werden sie frostig im ersten Schnee erstarren.
Doch bevor das geschieht, genieße ich den Goldenen Herbst ein weiteres Mal wandernd. Nicht so steil sollte der Weg
sein, nicht zu lang und bequem zu gehen, so mein Plan. Ich möchte genießen, denke ich beim Blick auf die „Mappe von
Gugel“ und werde fündig. Die paar Höhenmeter sollten auf diesen Waldwegen locker zu schaffen sein. Auf zum
Kastanienplatz bei Wernigerode!
Es gibt eine Straße direkt bis zum Waldrand; noble Wohngegend mit exquisitem Blick auf die Stadt. Ganz da oben lasse
ich meinen Harzflitzer stehen und finde alsbald, versteckt zwischen Bäumen, den Eingang in eine andere Welt. Rechts
von mir eine ausgedehnte Waldwiese, links dichter Laubwald. Eine mystisch anmutende Lauballee öffnet sich vor
meinen Augen. Die Welt aus Hektik, Häusern und Karrieren habe ich verlassen. Der Wald hat mich wieder. Hier fühle ich
mich wohl, entschleunigt und frei von Ängsten. Dies ist keine Flucht, es ist Ankommen!
Auf einer Kreuzung muss ich mich entscheiden – für geradeaus! Sanft führt mich eine herbstliche Waldallee tiefer in die
Mythenwelt von Rinderich und Trollpatsch hinein. An einem Holzstapel hinterlasse ich einen Gruß in Form eines
Harzsteines. Es ist still hier, kein Wind, kein Geräusch. Immer wieder bleibe ich stehen, möchte ich entdecken und
staunen. Warum sieht man erst im aufkommenden Alter die vielen kleinen Details, die wie ein Mosaik die Natur formen?
Manchmal denke ich, unsere Spezies hat diese Welt (noch) nicht verdient.
Ein Hohlweg zur linken führt steil in den Berg hinein. Wie eine riesige ausgewaschene Regenrinne voll Geröll und
ausgespülten Baumwurzeln. Kein Hinweis zu finden und doch muss genau dieser Horrorpfad mein „Weg“ zum Ziel sein.
Längst ahne ich, was da auf mich wartet. Mal nachschauen, was etwas weiter oben, hinter der Biegung zu sehen ist.
Schon nach wenigen Minuten pumpt der Kreislauf mehr Energie durch den Körper. Die Lunge saugt mehr Luft und die
Beine steigen Meter um Meter über Steine aufwärts. Hinter der Biegung sehe ich weiter oben die nächste und dann die
übernächste. Der Hohlweg bleibt hohl, steil, steinig und schlaucht alle zehn Meter immer mehr. Bald sind die Klamotten
verschwitzt, die Haar klatschnass und die Beine sagen etwas von „keine Lust mehr“. Nur der Kopf drängt mich weiter
nach oben, egal wie steil.
Nach einer Viertelstunde (oder so) ist noch keine Ende zu sehen. Hinter jeder neuen Biegung lockt steil der nächste
Abschnitt und oben direkt in die Nachmittagssonne hinein. Endlich öffnet sich links die Blicke ins Tal. Weit unter mir
breitet sich die Stadt mit dem Schloss aus. Erst jetzt ahne ich, dass mich dieser Qualweg wohl direkt auf die Kuppe des
Berges führen wird. Hier ist Natur noch ursprünglich, ist wild, sich selbst überlassen und lässt mich spüren, wie demütig
wir Menschen ihr gegenüber sein sollten. Irgendwie fühle ich Stolz, mich solchen Herausforderung zu stellen, aus Lust
und purem Vergnügen. Die 75 Lenze sind bei dieser sinnvollen Freizeitbetätigung nicht zu spüren. Von oben kommt mir
ein Pärchen entgegen, geradewegs vom Brocken, wie sie verraten. Beim „Erfahrungsaustausch“ entsteht ein Foto von
mir zur Erinnerung. Vielen Dank.
Nach einer halben Stunde, hundert Höhenmeter auf knapp einen Kilometer, erreiche ich des Berges Kuppe. Noch eine
Biegung leicht abwärts, dann stehe ich auf einer Kreuzung mit Wanderhütte: der Kastanienplatz. Glücklich, stolz und auf
einer grob gezimmerten Band sitzend, genieße ich diesen schönen Moment ein paar Minuten. Es fühlt sich an wie jedes
Mal, wenn die innere Trägheit erfolgreich überwunden und dieser innere Schweinehund besiegt ist. Keine Minute auf
dem steilen knorrigen Hohlweg möchte ich missen! „Schlimmer“ kann der Eckerlochstieg zum Brocken auch nicht sein.
Warte nur, ich komme bald!
Über den Bergen zieht eine ferne Wolkenfront auf. In einer Stunde wird es dunkel. Der Weg auf der anderen Talseite
wird mich wieder nach unten bringen. Abwärts ist es zwar nicht leichter für die Knochen, dafür nicht so
schweißtreibend, durch den herbstlich bunten Wald zu gehen. Nach einer Viertelstunde bin ich fast unten, stehe vor
einer großen Wiese. Am Waldrand die nächste Wanderhütte sowie ein Hinweis zum Lutherstein im Wald. Den hatte ich
schon gar nicht mehr im Hinterkopf, aber eigentlich geplant. Es sind nur wenige Schritte bis zu diesem Ort an einer
anderen Waldwiese. Hier begegneten sich im Jahre 1516 Martin Luther und sein geistiger Mentor Johann von Staupitz.
Seit Oktober 1917 erinnert ein Gedenkstein an diese Begegnung und in der Neuzeit findet hier alljährlich, am
Himmelfahrtstag, ein Gottesdienst unter freiem Himmel statt, erzählt mir eine freundliche Dame einer Wandergruppe im
Angesicht des Steines.
Sie erklärt mir auch, dass hinter dem Hügel noch ein Sonderstempel namens Kloster Himmelpfort sowie auch ein
Hinweis auf eine Wasserscheide zu finden wären. Diesen Hinweis auf das einstige Kloster Himmelpforten wollte ich
finden, doch einen Wegweiser fand ich nicht. Dem schmalen Trampelpfad folgend, stehe ich schon bald auf einer
Weggabelung und auf einer Erhöhung erblicke ich eine besondere Bank mit Engelsflügeln, wie von der Dame
beschrieben, sowie den Stempelkasten. Mein Kopf flüstert „Klicks, Klecks, Stempelbumms“, wie Meister Briefmarke,
während ich lächelnd den Stempel in mein Wanderheft eintrage. Herrlich, sind diese Kindheitserinnerungen!
Hier als stand über Jahrhunderte ein Kloster, doch zu sehen ist davon nichts mehr. Die letzten Steine wurden am Ende
zu Baumaterial für Häuser. Wenige Schritte weiter liegt am Wegesrand ein Stein mit der Aufschrift „Wasserscheide“ und
der Zusatz „Ilse-Holtemme“. Diese Wegkreuzung markiert quasi das Ziel meiner kleinen (anstrengenden) Wanderung.
Wieder einmal war ich auf unbekannten Pfaden, und diesem Umweg über den Kastanienplatz, unterwegs. Wieder
entdeckte ich stille Orte, die mir ansonsten verborgen geblieben wären. Der Rückweg führt wieder über die
„Waldrandallee“ bis Ausgangspunkt. Die Wolkenwand hängt jetzt dunkel über Wernigerode. Sie begleitet mich bis zum
heimischen Hof.