Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Entdeckungen, Wanderungen, Erlebnissen und Begegnungen im Harz.
Gibraltar oder Bosporus 27.04.2014 Es ist Ende April und in der Natur hat sich der Frühling endgültig breit gemacht. Man kann ihn sehen, spüren und riechen kann man die Frische überall auch. Angenehme Wärme begleitet das Erwachen und jungfräuliches Grün tut dem Auge gut. Vor meinen Füßen im Gras sehe ich viele weiße Flecken, die kleinen Blüten der Gänseblümchen. Mein Nachbar hat ihnen schon das erste Mal die Köpfe mit dem Rasenmäher abrasiert, um seiner Designerwiese einen Kataloganblick zu verpassen. Ich sitze auf meiner Gartenbank, links von mir eine Konifere, hinter mir ein Rosenstock und freue mich an den vielen weiß-roten kleinen (ungeköpften) Tupfern im Gras. Dazwischen sehe ich das satte Gelb des Löwenzahn und hier und da auch die ersten Kugeln der Pusteblumen. Meine Augen schweifen über das Grün und entdecken bunte Schmetterlinge, während mir die Sonne das Gesicht wärmt. Manchmal glaube ich, stundenlang so sitzen zu können, aber selbst wenn man sich nur ein paar Minuten mehr Zeit nimmt, sieht man ringsum die kleine Welt im Gras mit ganz anderen Augen. Ein gelber Falter hat sich auf eine der rosaroten Apfelblüten gesetzt und vor mir brummt sich eine dicke Hummel durch die Grashalme hindurch. Hier hinter das Haus dringt der Lärm einer Kleinstadt kaum noch hin und so kann ich die Ruhe genießen, die nur vom Zwitschern der Vögel, vom Zirpen und Summen aus dem Gras und vom Gurren der Tauben auf dem Dachfirst erfüllt ist. Hier ist beinahe ein kleines Naturparadies gewachsen, seitdem wir es aufgegeben haben, dem Boden ein paar mickrige Radieschen, Bohnen und Kohlrabi abzutrotzen. Inzwischen sind die Ecken, Kanten und gerade Wege verschwunden, alles ist wieder rund oder oval, statt in Beete aufgeteilt zu sein. Nur die sporadischen Blumen- und Sträucherinseln sind geblieben. Alles andere wuchert unkontrolliert als Wiese. Ich lehne mich auf meiner Bank weit zurück, verschränke die Arme hinter den Kopf, die Spitzen der Tannen im Visier und da huscht ganz schnell ein dunkler großer Schatten über sie hinweg. Wer oder was war das denn? Bei uns auf der Straße gibt es, drei Grundstücke weiter, ein ehemaliges Betriebsgelände. Die Firma, die vor allem Arbeits- und Schutzbekleidung hergestellt hat, ist inzwischen viel kleiner, aber sie gibt noch immer einigen aus dem Ort einen sicheren Arbeitsplatz. Der Rest des Geländes ist vermietet an neue Firmen, an Vereine und sogar eine Tanzschule hat hier ihr Auswärtsdomizil aufgeschlagen. Nur die alten Garagen stehen in Reih und Glied sowie völlig verwaist. Ein kleiner Getränkehandel, der hier vor Jahren noch die Einwohner entlang der kleinen Siedlung versorgte und manchen Älteren den Stammtisch ersetzte, ist wieder verschwunden. Mitten auf dem Hof war einst ein Heizhaus, das man noch heute an dem hohen Schornstein erkennen kann. Der überragt das Gelände und die alten Gebäude um gut und gerne zehn Meter, würde ich schätzen. Von fast jedem Ort der kleinen Stadtrandsiedlung aus können die Leute seine flache Spitze erkennen. Wie ein unnützes Rudiment aus längst vergangenen Zeiten, sollte man denken. Doch die alte Esse aus gelben Klinkersteinen hat inzwischen eine neue und auch schöne Bestimmung gefunden. Von meiner Gartenbank aus kann ich, wenn ich mich erhebe, den kahlen Schornstein, der sich vor den Baumgipfeln in den Himmel reckt, gut sehen. Während ich also meinen gemütlichen Platz im Grünen verlasse, huscht der Schatten ein zweites Mal beinahe lautlos tief über mich hinweg und fliegt über das Grundstück des Nachbarn zielsicher auf die alte Esse zu. Dort oben errichtet Jahr für Jahr ein Storchenpaar sein Nest und auch in diesem Jahr, Ende April, sind die beiden offenbar wieder von ihrer langen Reise eingetroffen. Sie umfliegen ihren Wohnplatz in luftiger Höhe mehrmals, um dann endlich dort oben zu landen. Willkommen zurück und zu Hause. Die Siedlung, in der ich wohne, liegt am Rande der Stadt und sie grenzt an ein großes Gewerbegebiet. Dort, wo heute mindestens fünf Automarken nebeneinander ihre neuen und gebrauchten Karossen an den Käufer zu bringen versuchen, wo Holzhandel, Melk- und Kühltechnik sowie Einkaufstempel und noch viele andere Niederlassungen ihren Geschäften nachgehen, waren vor der Währungswende nur Felder und Wiesen, die sich zu beiden Seiten der Schwarzen Elster über viele Kilometer dahin zogen. Ein nahezu ideales Lebensumfeld für Störche und vieles andere Getier. Zum Glück gibt es einen Teil dieser Auenlandschaft noch und die Wiesen ringsum sind, dem Fluss sei Dank, beinahe das ganze Jahr über feucht und das Gras ist saftig. An manchen lauen Sommerabenden dringt das Quaken der vielen Frösche vom nahen Tümpel bis in mein Schlafzimmer und dann weiß ich, ein Stück Natur ist noch in Ordnung; auch ohne Froschtunnel, wo Meister Adebar am anderen Ende lauern muss, bis mal einer ins Freie hüpfen möchte. Das hat sich vielleicht auch bis Familie Storch herumgesprochen und deshalb kommt sie gern wieder zum heimatlichen Schornstein, zum Tümpel und den Wiesen, mit dem großen Angebot an Frischfrosch, zurück. Das erlebe ich nun schon seit vielen Jahren, aber so richtig in mein Bewusstsein ist das, aus welchem Grund auch immer, erst im vergangenen Jahr gedrungen. Da muss im Frühling noch etwas anderes geschehen sein, das mit den Störchen da oben auf dem Schornstein zu tun hatte. Was immer es auch war, die Störche sind der Beweis, dass es ein kleines Mysterium gab. Schon vor einem Jahr habe ich die großen Vögel beobachtet, dem Bau des Nestes aus der Ferne zugesehen und über die ersten Flugversuche der Jungen gestaunt. Damals habe ich mit meiner kleinen Digi-Knipse die ersten Fotos gemacht und staunend erlebt, was das für majestätische Vögel sind, die von dort aus ihre Runden drehen und damit beginnen, alles möglichen Gesträuch im Schnabel zu ihrem Nest zu bringen. Wenn man das ein Mal mit wachen Sinnen erlebt hat, dann bekommt man eine Vorstellung davon, wie groß und schwer so ein Storchennest im Laufe der Jahre werden kann. Allerdings hat der Schornstein außen eine Leiter und fleißige Helfer sorgen dafür, dass die Last da oben nicht zu schwer wird. Morgens, wenn manchmal dichte Nebelschwaden über den Gärten und den Wiesen dahinter liegen, kann man mit ein wenig Glück beobachten, wie die Störche im Tiefflug weite Kreise drehen und gleitend zwischen den hohen Bäumen hindurch huschen. Dann setzt sich einer von ihnen, als würde er einen Lauerposten beziehen, in das Geäst, um dann plötzlich nach unten auf den Boden zu segeln. Wahrscheinlich ist ihm gerade ein Fang gelungen. Der Neugierige muss allerdings schon ein wenig Geduld mitbringen, um so ein Schauspiel am Morgen, wenn alles noch grau in grau aussieht, beobachten zu können. Obwohl die Störche, im Vergleich zu anderen Vögeln, die im Garten herum flattern, so groß sind, sind sie dennoch überraschend schnell in ihren Bewegungen. Es ist wie das Entdecken eines dunklen, lautlos dahin gleitenden Schattens vor einer grauen Kulisse. Man muss sich förmlich „auf die Lauer legen“, um einige dieser beeindruckenden Momente erleben oder einfangen zu dürfen. Und dann verbindet sich mit diesem schwarz-weißen Himmelsgleiter ja noch die Vorstellung von einer langen Reise über viele Länder, wenn es hierzulande beginnt, kalt zu werden. Dann begibt sich mein Adebar auf einen langen Flug nach Afrika in ein Gebiet, das südlich der Wüste Sahara liegt. Wer einen Storch schon einmal beim Fliegen beobachtet hat, wird schnell erkennen, dass er ein eleganter Segler und Gleiter ist, der zum Fliegen nur die warmen Aufwinde braucht, um lange Strecken bewältigen zu können. Damit ist aber, wenn er vor dem aufkommenden Winter in den Süden flüchtet, spätestens am Mittelmeer Schluss, was ihn dann zwingt, die große Wasserfläche ost- bzw. westlich zu umfliegen. Die „Weststörche“ fliegen dann von Gibraltar über die Meerenge bis nach Senegal und die „Oststörche“ überqueren den Bosporus und den Sinai, fliegen am Nil entlang bis in den Sudan. Gleich wie, es sind einige tausend Kilometer, die auf beiden Strecken zusammen kommen. Nur einige wenige bleiben in Spanien und Portugal hängen und gelangen deshalb auch wieder, wenn bei uns das Frühjahr kommt, schneller in ihrer Heimat zurück. Ich muss also nur noch ausfindig machen, ob unser Storch aus dem „Osten“ oder dem „Westen“ kam, um zu wissen, welche Länder er von oben gesehen hat. Ob er sich vorstellen kann, dass dies hier auch irgendwie „Osten“ ist, wird wohl unbeantwortet bleiben und ist eigentlich nur ein von Menschen gestricktes Kuriosum. Störche, so mein Hoffen und Glauben, machen es sich untereinander nicht so schwer, wie wir Menschen. Sie leben, sie lieben sich und sie machen kleine Störche. Im nächsten Leben werde ich ein Storch sein und fliegen kann ich dann auch. Während ich so zu dem langen Schornstein hinüber sehe, ist es mir auch egal, ob der mit dem roten Schnabel den Felsen von Gibraltar oder die Wasser des Bosporus von oben gesehen hat. Er ist wieder da und das ist einfach nur schön. Es sagt mir, dass es Sommer werden und wieder schön warm wird. Viele Dinge im Leben kehren regelmäßig immer wieder und wenn man sie dann wirklich bemerkt, wenn man sie schätzen gelernt hat, dann weiß man auch, dass sie dir kein Supermarkt anzubieten vermag und sie auch kein Autohaus in ihre Hochglanzprospekte druckt. Sich einfach einen Moment Ruhe gönnen, sich setzen oder stehen bleiben, durchatmen und erkennen, dass ein Storch aus dem Süden kam und auf dem Schornstein sein Nest wieder in Besitz nimmt. Schon vor hunderten Jahren geschah das genau so, nur dass damals niemand mit einer Digitalkamera dabei war, um diesen einen winzigen Moment zig Mal abzulichten. Luxus ist für mich inzwischen, wenn ich solche Momente wieder, mit wachen Sinnen und ein wenig naiv wie ein Kind, erkennen kann, wenn sie meine kleinen schlichten Wunder werden und ich mich an ihnen erfreuen darf. Plötzlich nimmt man wieder Dinge wahr, die man schon als selbstverständlich tief im eigenen Innern verbunkert und verbuddelt hatte. Jetzt hole ich sie wieder hervor und vergleiche sie mit anderen Situationen meiner eigenen Vergangenheit und mir fällt ein, dass der Felsen von Gibraltar aus dem Flieger nach Lanzarote genau so aussah, wie ich ihn aus dem Erdkundeunterricht auf der großen Landkarte an der Wand sah. Beinahe so, wie Adebar, unser Storch. Nur den Bosporus habe ich bisher nicht so gesehen, aber am Baikal war ich ja auch noch nicht.